Klucke hat jetzt zugegeben, er sei des Auswendiglernens überdrüssig.

Jedes Mal wenn ein neues Programme fertig gewesen sei, habe er gesagt, er wisse nicht, ob er sich das noch einmal antun müsse, jedes Mal neunzig Minuten Text, und das auswendig, habe er gesagt und betont, er wolle sich diesem Irrsinn nie wieder ausliefern, und obwohl er es jedes Mal gesagt habe, habe er unerklärlicher Weise dennoch in regelmäßigen Abständen sich gezwungen gesehen, wieder ein neues Programm zu erarbeiten. Dann müsse er wohl, so Klucke wörtlich, ohne es zu wissen, eine Rampensau sein. Sehe sich aber erst jetzt in der Lage, es zuzugeben.

Immer wieder habe er, insbesondere am Abend vor der Vorstellung, in der Garderobe sitzend ausgerufen, er habe keine Lust mehr, keine Lust mehr auf diesen Irrsinn, so Klucke wörtlich, jedes Mal neunzig Minuten Text, neunzig Minuten, wer da nicht verrückt werde, der sei es schon! Er, Klucke, habe deshalb ganze Passagen ein ums andere Mal unter den Tisch fallen lassen. Nicht etwa, weil er sie vergessen habe, sondern um sich und dem Publikum, das aber, so habe er beobachtet, naturgemäß davon gar nichts bemerke, um also in erster Linie sich zu beweisen, dass neunzig Minuten Text gar nicht erforderlich seien für einen hinreichend gelungenen Abend. Der auch nach siebzig Minuten durchaus hinreichend gelungen beendet werden könne. Nach siebzig Minuten! Und, so Klucke wörtlich, womöglich sogar ganz ohne Text.

Klucke hat jetzt angekündigt, künftig wolle er nur noch mit ausgedruckten Texte die Bühne betreten. Das habe er wiederholt bei den sogenannten Poetry Slammern gesehen, lauter junges Volk, denen es durchaus zuzumuten sei, die Texte, die ja nur maximal sieben Minuten lang seien, auswendig zu lernen, während er sich mit neunzig Minuten rumschlagen müsse, neunzig Minuten, und das in seinem Alter, das müsse man sich mal vorstellen. Aber so sei es halt wenn in der Schule kein Wert mehr auf Auswendiglernen gelegt werde, während er, Klucke, hingegen noch Balladen habe auswendig lernen müssen, die deutlich länger als sieben Minuten gewesen seien, und diese dann, wenn auch nur widerwillig, auswendig vor gelangweilten Klassenkameraden habe vortragen müssen.

Im Grunde genommen habe er ja schon immer gern gelesen, naturgemäß meist still für sich allein, zuhause am Tisch sitzend, unter dem warmen Licht der Wohnzimmerlampe, aber jetzt könne er sich gut vorstellen, dies künftig auf der Bühne zu tun, laut lesend vor Publikum, allerdings ohne seine Wohnzimmerlampe, da habe seine Frau schon interveniert, das komme gar nicht in Frage, die Wohnzimmerlampe im Theater, wo kämen wir da hin, die Wohnzimmerlampe bleibe da, wo sie hingehört. Es sei eine wunderbare Vorstellung, habe Klucke erklärt, nie mehr auswendig lernen zu müssen, nur noch das selbst Geschriebene vorlesen, wobei ihn dennoch eine leise Angst beschliche, wie er sich wohl behelfen könne, falls er seine Zettel mal vergäße, was altersbedingt ja durchaus vorkommen könne, und er dann seine Texte ja nicht mehr auswendig parat habe. Weil diese ja auf den zuhause liegen gebliebenen Zetteln fixiert seien.

Das sei ihm übrigens einmal mit seinem Keyboard passiert, als er zu einem Auftritt ins gefürchtete Weserbergland gefahren sei und er erst im ICE kurz vor Göttingen bemerkt habe, dass sein Gepäck wegen des fehlenden Keyboards um einiges leichter gewesen sei, worauf er sich erschrocken die Frage gestellt habe, wie er jetzt wohl ohne musikalische Untermalung seine Lieder vortragen solle. Er habe diese aus der Not heraus dann acapella vorgetragen, was sich als durchaus praktikabel erwiesen habe, da er sich ohne die vielen Tasten auf seinem Instrument, die sich oft als tückische Stolperfallen bei seinem musikalischen Vortrag erwiesen hätten, wesentlich freier habe seinem Gesang hingeben können. Allerdings sei der Vortrag von Texten, die zuhause liegen geblieben seien, acapella nur sehr schwierig zu bewerkstelligen. Im Grunde genommen gar nicht, so Klucke wörtlich.

Klucke habe dann frohen Mutes erklärt, er wolle jetzt dennoch endgültig eine neue Ära des Klucke'schen Werks einläuten, alles habe seine Zeit, künftig werde er nur noch, so wie er es sich schon lange erträumt habe, bis ins hohe Alter völlig entspannt auf einer Bühne am Tisch sitzend, völlig entspannt, siebzig Minuten lang Texte lesen. Siebzig Minuten. Und, so Klucke wörtlich, keine Minute länger!

Und wenn er eines Tages unwiderruflich vor der Himmelspforte stehe, würde er bei Petrus sogleich einen Tisch und ein Mikrophon anfordern.